Verfasst von Emily Locke
Die Contergan-Tragödie, eine der aufsehenerregendsten Arzneimittelskandale in Deutschland, betraf etwa 10.000 Menschen. Contergan war ein Schlaf- und Beruhigungsmittel, das den Wirkstoff Thalidomid enthielt [1]. Es wurde auch von vielen Frauen gegen die typische morgendliche Schwangerschaftsübelkeit genommen und galt im Hinblick auf Nebenwirkungen als besonders sicher. Durch die Einnahme von Contergan kam es jedoch zu Häufungen von schweren Fehlbildungen oder gar dem Fehlen von Gliedmaßen und Organen bei Neugeborenen [2]. Im November 1961 – nachdem bereits 300 Millionen Tabletten verkauft wurden – wurde bekannt, dass der Wirkstoff Thalidomid die schweren Schädigungen in der Wachstumsentwicklung der Föten hervorrufen konnte. Heute leben noch etwa 2.200 Contergan-Geschädigte in Deutschland, die mit zunehmendem Alter immer mehr an ihren körperlichen Einschränkungen leiden [1].
Wie konnte so etwas passieren? Natürlich werden neue Wirkstoffe vor ihrer Zulassung umfangreich getestet, um unerwünschte Wirkungen aufzudecken und mögliche Risiken abzuschätzen. Standardmäßig gehören zu diesen Sicherheitstests auch Tierversuche, um das Wirkprinzip und die Verträglichkeit des Medikaments zu prüfen. Contergan wurde vor seiner Marktzulassung ebenfalls an Tieren getestet, jedoch wurden die Schäden, die das Mittel in den ersten Wochen der Schwangerschaft den menschlichen Embryonen zufügte, in diesen Versuchen nicht entdeckt [3]. Unklar ist, ob auch Versuche an schwangeren Tieren durchgeführt wurden, da alle Versuchsprotokolle des Herstellers Grünenthal vernichtet wurden [4, 5]. Nun dient der Contergan-Skandal interessanterweise Gegner*innen und Befürworter*innen von Tierversuchen gleichermaßen als Argument. Gegner*innen sehen den Skandal als einen Beleg dafür, dass der Tierversuch keine Sicherheit bietet und die Ergebnisse nicht auf den Menschen übertragbar sind [5]. Befürworter*innen hingegen argumentieren, dass die Katastrophe mit präklinischen Tierversuchen in weit größerem Umfang, also mit zusätzlichen Tests an schwangeren Tieren unterschiedlicher Spezies, vermeidbar gewesen wäre [6].
Unabhängig davon, welche Seite bezüglich des Contergan-Skandals Recht haben mag, war der Einsatz von Tieren für Forschungszwecke schon immer ein kritisch diskutiertes Thema. Ist es ethisch vertretbar, Experimente an Tieren durchzuführen? Wie aussagekräftig sind im Tierversuch gewonnene Ergebnisse? Welche Alternativmethoden sind mittlerweile verfügbar? Und in welchem Maße könnten sie Tierversuche in naher Zukunft ersetzen? In diesem Artikel präsentieren wir verschiedene Ansichten für und gegen Tierversuche und stellen mögliche Wege vor, wie ihre Anzahl künftig reduziert werden könnte.
Diese Themen warten auf Sie:
1) Tiere in der Forschung – Aktuelle Zahlen aus Deutschland
2) „Animal Testing is Torture!” – Das sagen die Gegner*innen von Tierversuchen
3) Sind Tierversuche „unerlässlich“? – Das sagen die Befürworter*innen von Tierversuchen
4) In vitro und in silico statt in vivo – Alternativen zum Tierversuch
5) „Animal-Free“ und Life Science-Produkte
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Tiere in der Forschung – Aktuelle Zahlen aus Deutschland
Tierversuche werden unter anderem zur Erforschung von physiologischen Prozessen, zur Entwicklung von Produkten und Therapieverfahren und zur Überprüfung der Produktsicherheit durchgeführt [7]. Jeder Tierversuch muss nach dem deutschen Tierschutzgesetz (TierSchG) vor Durchführung bei der zuständigen Genehmigungsbehörde beantragt werden [8]. In Deutschland wurden im Jahr 2022 rund 2,44 Millionen Tiere für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt, davon wurden 1,73 Millionen Tiere lebend und teilweise mehrmals in Tierversuchen verwendet und weitere 712.000 wurden ohne vorherige Eingriffe getötet, um ihre Organe oder Gewebe für Forschungszwecke zu benutzen [9]. Mehr als die Hälfte aller Tierversuche diente 2022 der biologischen Grundlagenforschung, 16% sind der Herstellung, Zulassung oder Kontrolle von Produkten zuzurechnen und 14% entfallen auf die angewandte Forschung [10].
Betrachtet man die Aufteilung der in den Versuchen eingesetzten Tiere, so werden Nagetiere (79%) mit Abstand am häufigsten genutzt, gefolgt von Fischen (12%). Der Anteil an Mäusen ist dabei mit 72% besonders hoch. Dies liegt unter anderem an den einfachen Haltungsbedingungen, der kurzen Generationenfolge, dem vermehrten Einsatz transgener Mäuse und der vollständigen Genomentschlüsselung.
Versuche an „höheren“ Wirbel- bzw. Säugetieren sind dagegen sehr viel seltener: 2022 wurden 2.267 Primaten, 2.877 Hunde und 538 Katzen in Tierversuchen verwendet [10]. Hintergrund ist die verbreitete Auffassung, dass „höhere“ Wirbeltierarten unter den Versuchseinwirkungen stärker leiden als „niedere“ Arten. Die EU-Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere stellt daher Primaten und andere Tierarten unter einen besonderen Schutz. So ist beispielsweise das Verwenden von Menschenaffen (Gorillas, Orang-Utans, Schimpansen und Bonobos) in Tierversuchen in der EU seit 2010 streng verboten. Die postulierte Hierarchie des Leidens „höherer“ versus „niederer“ Arten unter gegebenen Versuchsbedingungen ist aus wissenschaftlicher Sicht jedoch fragwürdig und wird auch aus ethischer Sicht teils kontrovers beurteilt [8].
„Animal Testing is Torture!” – Das sagen die Gegner*innen von Tierversuchen
Die zentrale ethische Fragestellung beim Thema Tierversuche ist natürlich, ob und inwiefern der menschliche Nutzen tierisches Leiden und Sterben rechtfertigt [7]. Es geht also im Grunde darum, welche Stellung man Tieren gegenüber Menschen einräumt. Tierversuchsgegner*innen argumentieren, dass dem Tier als fühlendem Subjekt eine moralisch ebenbürtige Behandlung wie dem Mitmenschen zustehe und dass somit das Töten von Tieren sowie das Zufügen von Schmerzen moralisch unzulässig sei. Die Tiere würden im Tierversuch zu Messinstrumenten degradiert, was der Würde des Lebewesens nicht entspreche [11].
Abbildung 1: Viele Menschen gehen gegen Tierversuche und für mehr Tierschutz auf die Straßen. So demonstrierten beispielsweise 2015 in Berlin knapp 2.500 Menschen unter dem Motto „Forschung ja – Tierversuche nein!“ für eine tierversuchsfreie Forschung [12] (KI-generiertes Bild).
Neben der ethischen Argumentation sehen viele Kritiker*innen außerdem ein Problem in der Aussagekraft der am Tier gewonnenen Erkenntnisse. Diese seien nicht auf den Menschen übertragbar und daher überwiegend nutzlos. Es sei fraglich, ob unterschiedliche Spezies (wie Mensch und Maus) wegen der strukturellen und funktionellen Gleichartigkeit vieler Organe auf dieselben Stoffe gleich reagieren. Stattdessen sei die Wirkweise von Stoffen im Organismus in stärkerem Maße Spezies-spezifisch [7]. An dieser Stelle wird oft der bereits erwähnte Contergan-Skandal als Beispiel herangezogen, in dem sich Forschende bei der Prüfung der Produktsicherheit in falscher Sicherheit glaubten – aus Sicht von Tierversuchsgegner*innen eben aufgrund der fehlenden Aussagekraft der Experimente am Tier.
Sind Tierversuche „unerlässlich“? – Das sagen die Befürworter*innen von Tierversuchen
Eine ganz andere Ansicht haben die Befürworter*innen von Tierversuchen – oder diejenigen, die Tierversuche für unerlässlich halten. Ihrer Meinung nach ist die Verwendung von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken ethisch vertretbar, wenn der zu erwartende wissenschaftliche Erkenntnisgewinn die Belastung der Tiere im Versuch rechtfertigt [8]. Es wird also davon ausgegangen, dass die Interessen der Menschen, ihre Gesundheit zu erhalten, grundsätzlich höher zu bewerten sind als der Schutz anderer Lebewesen. Außerdem weisen Tierversuchsbefürworter*innen darauf hin, dass es ethisch nicht vertretbar sei, klinische Studien und andere Experimente am Menschen ohne vorherige Tierversuche durchzuführen, wenn die Möglichkeit bestehe, die mit der Studie einhergehenden Risiken für die Testpersonen mit Hilfe von vorangehenden Tierexperimenten zumindest abschätzen zu können [11].
Vertreter*innen der tierexperimentell ausgerichteten Forschung führen außerdem an, dass alle wichtigen Erkenntnisse im Bereich der Medizin auf Tierversuche zurückzuführen seien. So sei die Entwicklung von Impfseren sowie die Untersuchung verschiedener Krankheitserreger nur durch Versuche an Tieren möglich gewesen und ein Verzicht auf diese würde eine „Verlangsamung des medizinischen Fortschritts bedeuten und damit Heilungschancen für kranke Menschen deutlich schmälern“, so die Deutsche Forschungsgemeinschaft [11]. Eine Übertragbarkeit der Ergebnisse vom Tier auf den Menschen sei aufgrund der großen Ähnlichkeit hinsichtlich Zell- und Organfunktion möglich, insbesondere wenn auch die Art-spezifischen Besonderheiten in Betracht gezogen werden. Einige Forschende sind der Meinung, dass die Komplexität eines intakten Organismus notwendig sei, um alle Wirkungen eines Stoffes zu überprüfen, vor allem wenn das komplizierte Zusammenwirken mehrere Organsysteme untersucht werden soll [7]. Sind Tierversuche also auch zukünftig nicht vollständig zu ersetzen?
In vitro und in silico statt in vivo – Alternativen zum Tierversuch
In den letzten Jahren wurde intensiv an alternativen Methoden geforscht, um die Notwendigkeit von Tierversuchen einzugrenzen. Dabei folgt man einem wesentlichen ethischen Leitgedanken der tierexperimentellen Forschung, dem sogenannten 3R-Prinzip: Reduction (Reduzierung), Refinement (Verbesserung) und Replacement (Ersatz). Demnach dürfen Tierversuche nur dann durchgeführt werden, „wenn zur Aufklärung der wissenschaftlichen Fragestellung keine anderen geeigneten Methoden zur Verfügung stehen und die Anzahl und Belastung der eingesetzten Tiere auf das unerlässliche Maß beschränkt werden“ [8].
Abbildung 2: Das Logo der British Union for the Abolition of Vivisection (BUAV). Dieses ist ein international verbreitetes Kennzeichen für tierversuchsfreie („cruelty free“) Produkte. Insbesondere viele Kosmetikprodukte in Europa, die nicht an Tieren getestet wurden, tragen dieses Symbol [13].
Alternativtechniken, die für viele Fragestellungen den Tierversuch ersetzen können, umfassen insbesondere in vitro-Verfahren an Zellkulturen und Mikroorganismen [11]. Darüber hinaus gibt es immer mehr Fortschritte im Bereich der Organoide, also künstlich erzeugte Zellen verschiedener Gewebearten, die als vielversprechendes Ersatzmodell eine zunehmende Rolle spielen [7]. Neben den in vitro-Methoden werden heutzutage zusätzlich in silico-Tests durchgeführt. So können beispielsweise Arzneimittel am Computer entwickelt und deren Wirkung in Simulationen vorhergesagt werden [11]. Es ist nach wie vor umstritten, in welchem Maße diese Methoden Tierversuche in naher Zukunft ersetzen können, aber zumindest für den Bereich der Kosmetikforschung ist ein vollständiger Ersatz der Sicherheitsprüfungen am Tier durch alternative Testverfahren vorgesehen [7].
„Animal-Free“ und Life Science-Produkte
Neben den Experimenten selbst werden Tiere auch für die Herstellung von Life Science-Produkten eingesetzt, beispielsweise zur Erzeugung von Substanzen wie Wachstumsfaktoren, die derzeit noch für Zellkulturverfahren genutzt werden, oder zur Produktion von Antikörpern für die Forschung und Diagnostik. Doch auch in diesem Bereich wird derzeit ein Wandel angestoßen und immer mehr Hersteller verpflichten sich dem nachhaltigen Tierschutz, indem sie Produkte entwickeln, die „animal-free“ sind.
Wir bei Biomol sind stolz darauf, mit Partnern zusammenzuarbeiten, die das Thema „animal-free“ in ihren Fokus rücken. So bietet beispielsweise unser Lieferant ForMedium tierfreie Nährmedien für das Wachstum von E. coli an, in denen Trypton durch Sojapepton ersetzt wird. InVitria setzt Pflanzen als Produktionswirte ein, um sichere und wirksame Alternativen zu Serum und Serumproteinen anzubieten. Einer unserer neuesten Hersteller - Pacific Coast Biologics - liefert hochmoderne tierversuchsfreie Alternativen zu Zytokinen, Wachstumsfaktoren und anderen rekombinanten Proteinen und unterstützt damit eine ethische und nachhaltige Forschung. Und unser Partner AdipoGen Life Sciences hat rekombinante Fusionsproteine entwickelt, die sogenannten InVivoKines™, welche unter tierfreien Bedingungen hergestellt werden.
Die Reduzierung und das Ersetzen von Tierversuchen bei gleichzeitigem Erhalt des wissenschaftlichen Fortschrittes ist und bleibt ein großes Ziel in der Forschung. Mit der (Weiter)Entwicklung vieler Alternativmethoden und -produkte kommen wir diesem Ziel jedoch bereits näher. Dabei sind Sie und wir als Forschende und Angehörige der Life Science-Community gefragt: Nutzen Sie, wann immer möglich, tierfreie Produkte im Labor oder steigen Sie auf alternative Verfahren zu Tierversuchen um. So können wir gemeinsam den Weg zu einer zunehmend tierversuchsfreien Forschung ebnen!
Quellen
[1] https://www.contergan-skandal.de/de-de/der-contergan-skandal, 25.09.2024
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Contergan-Skandal, 25.09.2024
[3] https://naturwissenschaften.ch/animal-experimentation-explained/relevance/security, 25.09.2024
[4] https://www.aerzte-gegen-tierversuche.de/de/wissenschaftliche-studien/contergan, 25.09.2024
[5] https://www.peta.de/neuigkeiten/contergan-spricht-der-skandal-fuer-oder-gegen-tierversuche/, 25.09.2024
[6] https://www.aerzteblatt.de/archiv/79061/Tierversuche-Das-Beispiel-Contergan, 25.09.2024
[7] Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (2024): Im Blickpunkt: Tierversuche in der Forschung. https://www.drze.de/de/forschung-publikationen/im-blickpunkt/tierversuche-in-der-forschung, 25.09.2024
[8] Deutsche Forschungsgemeinschaft (2019): Tierversuche in der Forschung: Das 3R-Prinzip und die Aussagekraft wissenschaftlicher Forschung. https://www.dfg.de/resource/blob/309210/f6c41e7837a3936896dad950a83c0e32/handreichung-sk-tierversuche-data.pdf, 25.09.2024
[9] Deutsches Zentrum zum Schutz von Versuchstieren: Verwendung von Versuchstieren im Berichtsjahr 2022. https://www.bf3r.de/de/verwendung_von_versuchstieren_im_jahr_2022-313306.html, 25.09.2024
[10] https://www.tierschutzbund.de/tiere-themen/tierversuche/statistik-zu-tierversuchen, 25.09.2024
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Tierversuch, 25.09.2024
[12] https://www.duunddastier.de/ausgabe/2500-menschen-gehen-auf-die-strasse/, 25.09.2024
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Buav.svg, 25.09.2024
Preview-Bild: https://www.pexels.com/de-de/foto/weisse-babymaus-159483/